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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783940435156
Sprache: Deutsch
Umfang: 145 S.
Format (T/L/B): 1 x 21.5 x 13.5 cm
Einband: kartoniertes Buch

Leseprobe

Ich war noch mit dem Erwachsenwerden beschäftigt, als die Stadt begann, von den unaufhörlichen Hammerschlägen widerzuhallen, die dem Leben auf dieser Seite des Ozeans ihren Rhythmus aufprägen sollten, crescendo, wie eine Note, die etwas lauter gespielt wird als der Rest der Melodie. Wahrscheinlich hatte alles lange vor diesem Abend begonnen. Wahrscheinlich hatte das Gehämmer eine lange Pause gemacht und setzte wieder ein, so wie die Wellen sich zurückziehen, um sich dann mit verstärkter Wut gegen den Rumpf eines zerbrechlichen Bootes zu werfen. Jedenfalls begann ich sie in diesem Moment zu hören. Ich erinnere mich noch genau an den trockenen, schüchternen Klang des ersten Schlages, dann der zweite, der dritte schon entschlossener Ich war aus dem Bett gesprungen, war ans Fenster gegangen, das ich oft offen ließ, um die dem Schlaf förderliche Brise einzulassen, und hatte gehorcht. Das seltsame Getrommel hatte sich in der Nacht verstärkt und sich bis zum Morgen quälend durch sie hindurchgezogen. Seither war es nicht mehr verstummt und hatte sämtliche Geräusche ringsum übertönt: das Brummen der Autos, das Liebesgeheul, die Schreie der ausgehungerten Kinder, die wütend brennende Sonne, die gedämpften Schritte der Erinnerung Die Stadt gehörte damals dem Sohn des Mannes-der-für-tausend-Jahre-die-Macht-ergriffen-hatte. Die Bevölkerung hatte sich schließlich an den Gedanken gewöhnt, sah mit einem gewissen Wohlwollen zu, wie er gutmütig beleibt im Hof des Palastes herumspazierte, und vergaß darüber die Terrorjahre, die die Herrschaft seines Vaters geprägt hatten. Freilich war er, nachdem seine eigene Herrschaft bei Karnevalsfeierlichkeiten besonders respektlos aufs Korn genommen worden war, im Fernsehen aufgetreten und hatte gebrüllt, er sei der Sohn eines Tigers und könnte bei Gelegenheit beweisen, dass er seine natürlichen Reflexe besaß, aber niemand hatte ihn ernst genommen. Die Bevölkerung hatte lediglich die Gelegenheit ausgenutzt, ihm den Namen Titig zu verleihen, einen der eher Zuneigung ausdrückenden Diminutive, wie man sie in dieser Ecke der Welt häufig antrifft. In der Folge hatten die Stadtbewohner seine Hochzeit mit einer ehemaligen Stripteasetänzerin und die Geburt des jüngsten Mitglieds der Dynastie sogar mit Freudenfesten begangen. Und so hätte nur ein Seher von hohen Gnaden ahnen können, was folgen sollte. Eigentlich hätte beim plötzlichen Verschwinden Marie-Claires, die alles, was mit Pickeln im Viertel herumlief, in die Wonnen des Fleisches eingeführt hatte, zumindest den Jüngsten etwas dämmern müssen, denen, die sie allein durch die Macht ihres Geschlechtsteils in Angst und Schrecken hielt. Aber wir lebten zu sehr in der Erinnerung an ihre Lektionen, um an etwas anderes zu denken. Nicht einmal an den rüden und eher frustrierenden Unterricht der um fünf Jahre Älteren. Wir mussten so tun, als verstünden wir, wenn sie nach Kriterien, die sich nur nach ihrer momentanen Laune richteten, einen von uns für einen Vor- oder Nachmittag ausgewählt hatte. Der Erwählte folgte ihr dann stolz und schäumend vor Ungeduld. Manchmal nahm sie sich noch am selben Tag einen anderen, der ebenfalls stolz davonstolzierte, aber sofort den Schwanz einzog, wenn sie ihn schräg ansah. Wir kamen oft auf ihre Reize zu sprechen und wetteiferten verbal, wer ihr die größte Lust bereitet hatte. Die Wahrheit lag, wie wir alle wussten, eher in dem gleichmütigen Gesicht, mit dem sie am Fenster aufpasste, dass nicht unerwartet ein Störenfried auftauchte, während unser jugendliches Alter sich hinter ihrem gerade einmal bis zum Hintern hochgeschobenen Kleid auf der Suche nach jenem Schauer abmühte, der den Körper von den Zehen bis zu den Haaren durchläuft, den wir in Handarbeit herbeizuführen pflegten und der mit ihr immer schneller kam, als wir brauchten, um die Hose aufzuknöpfen, denn sie gestattete uns niemals, sie ganz auszuziehen. Dann musste man sich eilig wieder anziehen, während sie wie ein Wächter in lässiger Haltung regungslos vor uns stehen blieb, das Gesicht verzerrt von einer eigenartigen Grimasse, den Ellbogen aufs Fensterbrett gestützt. Ihre lückenlose Wachsamkeit hinderte im Übrigen ihre Schwester nicht daran, uns eines Vormittags mittendrin zu überraschen. 'Das ist nicht wahr! So eine Unverschämtheit!', zeterte sie. Ich konnte gerade noch die Hose hochziehen und aus dem Zimmer laufen, verfolgt von der Stimme der jungen Frau, die ihre jüngere Schwester zusammenschnauzte. Nach diesem Missgeschick, das mich zum Gespött aller Freunde machte, hatte Marie-Claire sich von uns entfernt. Sie ging kaum aus dem Haus. Man sah sie nur zum Einkaufen gehen, bevor sie sich wieder in dem Zimmer einschloss, das sie mit ihrer älteren Schwester teilte. Ich spähte so lange durch dieselben Fensterläden nach ihr, durch die sie eventuelle Störenfriede im Auge zu behalten pflegte, bis ich sie eines Tages auf ihrem Bett liegen sah. Nackt wie am Tag ihrer Geburt. Ihr nackter Körper, den ich zum ersten Mal erblickte, erregte jedoch weniger meine Aufmerksamkeit als ihr Gesichtsausdruck: abwesend, aufgelöst. Vielleicht hatte man ihr eine Katastrophennachricht überbracht: den Tod ihrer Eltern oder das Ende der Welt in den nächsten vierundzwanzig Stunden, ohne dass sie den eigentlichen Sinn der Botschaft begreifen konnte, so wie die Heranwachsende, die nach einer überzeugenden Predigt des protestantischen Pastors über die nahe bevorstehende Rückkehr des Herren heimlich zu ebenjenem Herren betete, damit er seine Rückkehr noch so lange aufschob, bis auch sie von den Mysterien der Ehe gekostet hatte. Marie-Claire trällerte ein altes Lied, das die Familien in der Stadt von Generation zu Generation weitergaben, so dass am Ende niemand mehr Ursprung und Autor kannte. Das Lied tönte tief, während Tränen über ihr Mondgesicht liefen: Weh, Wind, weh! Meine Mutter fuhr zur See Mein Vater fuhr zur See Weh, Wind, weh! Dass ich sie wiederseh. MarieClaire verschwand eines Morgens spurlos. Manche sagen, dass sie durch den Massakerfluss gewatet und in die Kleinstadt an seinem Ufer zurückgekehrt sei, aus der sie stammte. Andere behaupten, sie hätte eines der Boote bestiegen, die versuchten, die Ufer dort drüben zu erreichen, blinder Passagier eines Schicksals, in dem sie von Anfang an auf der Ersatzbank saß. Andere wiederum ließen das Gerücht umgehen, dass sie während einer Zeremonie gestorben sei, in der sie sich anschickte, Luzifer im Austausch für eine Stelle als Bordellwirtin und das damit verbundene Renommee ihre Seele zu verkaufen. Als der Teufel erschien, konnte sie trotz der Warnung des Zeremonienmeisters der Versuchung, ihm ins Gesicht zu sehen, nicht widerstehen. Sie öffnete die Augen und starb wie vom Blitz getroffen, noch bevor sie sie wieder schließen konnte. Was mich betrifft, so spukt mir nur eine Frage weiterhin im Kopf herum: Warum gab sie sich unerfahrenen vierzehn, fünfzehnjährigen Jungen wie uns hin, obwohl sie genug Reize hatte, um weit reifere Männer zu verführen? Lange habe ich gehofft, ihr zu begegnen, irgendwo zufällig in den Straßen einer Stadt mit Millionen Anonymen, ich hätte sie eingeladen, in einem Hotelzimmer mit mir zu schlafen, an einem Strand, hinter Büschen, ich hätte sie für ihre Großzügigkeit geliebt und für die Heranwachsenden des Viertels, all jene, denen sie in der Schlucht ihrer Lenden die Hölle und das Paradies zugleich geschenkt hatte. Die Hoffnung hat mich noch nicht verlassen.

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